Bookmark and Share

Poeten lassen die Wurzeln purzeln

Hausach. Zwei Autoren und zwei Autorinnen lasen am Samstag bei der Leselenz-Veranstaltung „Vom poetischen W:ort I und Versopolis“ aus ihren Werken. Zwei von ihnen, die Armenierin Tatev Chakhian und die Kroatin Marija Dejanovic, sind Mitglied der von der europäischen Kommission unterstützten Poesie-Plattform „Versopolis“, die ihnen die Veröffentlichung ihrer Werke ermöglicht.

Jon Cho-Polizzi hielt die Laudatio für die armenische Dichterin Tatev Chakhian. Impulsivität und Grausamkeit wehten durch ihre Poesie, stellte er fest: Die andauernde Drohung des Krieges, die nun über Europa hänge. Sie schreibe Gedichte von tragischer Schönheit und lyrischer Trauer, Geschichten, die besser unentdeckt geblieben wären.

Chakhian, Jahrgang 1992, las in Armenisch, die Übersetzung kam von Michael Pervan vom Stuttgarter Institut für Sprechkunst. In „Migrant Point“ schreibt die Dichterin über Europa: „Europa – mein Herz ist schwerer als die 56 Kilo, die du siehst / aber wenn deinem Herz meins nicht wehtut, / dann tu auch so, als würdest du meinen Körper nicht sehen.“ Und in dem Gedicht „Aussichtspunkt: Ich war vier Jahre alt“ findet sie berührende Worte über das Fremdsein: „Von Vaters Schultern aus betrachtet, aus der Höhe, / ist Emigration / jene ausgedehnte Leere, / die sich zwischen Menschen und Vögeln erstreckt.“ Michael Vogel kündigte die Dichterin Marija Dejanovic, Jahrgang 1992, an. Ihre Fantasie sei unermesslich, stellte er fest und wenn sie uns vorflunkere, werde alles umso wahrer. „Lassen Sie sich einspinnen in das Garn von Marija Dejanovic“, riet er den Zuhörern. Mit erinnerungsschwerer Stimme las die Autorin in kroatischer Sprache, der Judith Quast, ebenfalls vom Institut für Sprechkunst, sogleich die deutsche Übersetzung folgen ließ. Sie sei inmitten einer ethnischen Säuberung geboren, sagt sie, obwohl es keine Sauberkeit gab. Und sie sinniert über das Fremdsein in nächster Nähe: „Wenn in deinem Mund mein Name geschmolzen ist / könnt ich schwören, dass es sich um einen anderen Namen handelt // Wenn du mit deinem Mund meine Wange küsst / könnte ich schwören / dass es nicht meine Wange ist.“ Björn Hayer stellte den Spanier Mario Martín Gijón, Jahrgang 1979 vor. Die Extremadura, von der er komme, sei für ihn als prägende Kraft „nicht nur Nomen, sondern auch Omen“. Sein lyrisches Ich dringe vorzugsweise durch Augen und offene Wunden in einen ein. Überhaupt sei Wunde ein zentrales Wort für ihn, ein offenes Tor zur Empathie.

Mario Martín Gijón las seine Gedichte auf Spanisch, die deutsche Übersetzung steuerte Stefan Wancura bei. Seine Gedichte mit ihren Wort-Mehrdeutigkeiten in seinem Kampf gegen die Linearität seien nicht für die Bühne gedacht, räumte er ein. Man müsse diesen „Trugreiz der Worte“ vor sich haben, sie lesen. „In Memoriam“ zeigt er das Festklammern an Ritualen, auch wenn keiner mehr da sei. Von Niederlagen handeln seine Gedichte und von Liebe, sie spiegeln widerstreitende Gefühle wie etwa die „Hassliebe“.

Vater in den Wolken

Björn Hayer präsentierte auch den indischen Dichter Ranjit Hoskoté, Jahrgang 1969. In seinen Gedichten lebe die Vergangenheit fort und sei von der Gegenwart nicht zu trennen, meinte er. Auch hier besorgte Stefan Wancura die Übersetzung. Hoskotés Lyrik zeigt das Potenzial der Verwandlung der Gewalt, einer Metamorphose zu etwas Neuem. Ein Leuchtturm weist ihm den Weg und doch läuft er auf Grund und kehrt heim. „Wurzeln purzeln“ heißt es da und es ist für ihn herrlich, die Worte aufzuknoten. So sichtet er in der Küche „Thymian und Petersilie, Simon und Garfunkel“. Mit einer Erinnerung an seinen Vater endet die Lesung: „Ein Choral steigt zu den Wolken, es ist mein Vater.“

Bookmark and Share